Der Markt für ESG-Investments ist immer noch ein Wilder Westen, in dem häufig das Recht des Stärkeren gilt: Wer mehr zu ESG berichtet, wird von ESG-Ratingagenturen auch besser bewertet. Small- und Midcaps mit begrenzten Ressourcen drohen dabei unter die Räder zu kommen – außer, wenn auch sie anfangen, das ESG-Rating-Spiel mitzuspielen …
Dass ESG-Faktoren aktuell noch nicht korrekt in den Preis der meisten Aktien eingepreist sind, ist den meisten Marktteilnehmern bewusst: Der Mega-Trend ESG führt zu ineffizienteren Kapitalmärkten. Als Hauptgründe gelten vor allem fehlende Daten und Bilanzierungsstandards, wodurch Investoren eine realistische Einschätzung der ESG-Performance von Unternehmen erschwert wird.
Darunter leiden insbesondere kleinere und mittelgroße Unternehmen, die von ESG-Ratings noch immer signifikant schlechter in puncto ESG bewertet werden, wie die Privatbank Berenberg 2020 in einer lesenswerten Studie feststellte. Und das obwohl Small- und Midcaps ESG-Themen oft mindestens genauso ernst nehmen wie die Large- und Mega-Caps.
Insofern tragen auch ESG-Ratings dazu bei, ESG-bedingte Ineffizienzen zu verschärfen. Die europäische Wertpapieraufsichtsbehörde ESMA stellte deswegen bereits 2021 in einem Schreiben an die Europäische Kommission deutliche Probleme bei ESG-Ratings fest, was zu einem hohen Risiko für Greenwashing und ESG-bedingten Kapital-Fehlallokationen führt.
Die Probleme mit ESG-Ratings sind auch großen Investoren bewusst. Sie greifen zwar auf ESG-Ratings zurück, nutzen aber immer seltener die plakativen Scores der Anbieter, sondern oft nur die zugrundeliegenden ESG-Daten, die von den Ratingagenturen gesammelt wurden. So wie Invesco: der internationale institutionelle Investor greift laut seinem aktuellen ESG Investment Stewardship Report auf die Informationen von bis zu acht ESG-Ratingagenturen zurück. Diese Daten werden von Invesco dann mithilfe komplexer Formeln weiterverarbeitet, um am Ende eine eigene ESG-Bewertung von Unternehmen zu erhalten.
Die Probleme der ESG-Ratings: Was Small- und Midcaps tun sollten
Was ruft das breite Misstrauen in aktuelle ESG-Ratings hervor? Das Hauptproblem liegt in der Masse – und zwar sowohl der ESG-Ratingagenturen als auch der Unternehmen, die mittlerweile von ESG-Ratings abgedeckt werden.
Anders als am Kreditrating-Markt mit den drei großen Ratingagenturen S&P, Moody’s und Fitch, die 2020 immer noch über 90% des Kredit-Ratingmarkts in der EU ausmachten, ist der ESG-Ratingmarkt noch immer deutlich fragmentierter. Dadurch sind sehr viele unterschiedliche Methodiken im Markt – wodurch sich deutlich geringere Korrelationen zwischen den einzelnen ESG-Ratings ergeben als zwischen Kreditratings.
Was die Coverage anbelangt, decken große ESG-Ratingagenturen wie MSCI oder Sustainalytics mittlerweile weit über 10.000 Unternehmen weltweit ab. Angesichts vergleichsweise kleiner Teamgrößen von nur wenigen hundert Mitarbeitern eine Herausforderung – die dadurch noch vergrößert wird, dass sich die relevanten ESG-Themen je nach Branche deutlich unterscheiden können.
Stichwort Branchen: Hier stehen die ESG-Ratingagenturen vor ganz praktischen Problemen, Unternehmen der korrekten Branche zuzuordnen – zumal viele Unternehmen Produkte und Dienstleistungen aus mehreren verschiedenen Bereichen verkaufen. Und diese Fehlzuordnung kann schnell dazu führen, dass das eigene ESG-Rating deutlich schlechter ausfällt als angemessen.
Aufgrund dieser Probleme sind aktuell vor allem große Unternehmen im Vorteil, die ohnehin schon sehr aufwändig berichten und die Kommunikation mit ESG-Ratingagenturen routinemäßig bewältigen. Gerade kleinere börsennotierte Unternehmen müssen deshalb in die Offensive gehen und selbst proaktiver mit ESG-Ratingagenturen den Austausch forcieren, um ein realistischeres Rating zu erhalten. Denn oft informieren ESG-Ratingagenturen die Unternehmen nicht einmal, dass ein ESG-Rating über sie erstellt wurde.
Wege aus dem ineffizienten ESG-Markt
Zumindest gibt es einen Silberstreif am Horizont: die IFRS Foundation mit dem in Frankfurt ansässigen Unterzweig des International Sustainability Standard Board (ISSB) strebt eine grundsätzliche Standardisierung von ESG-Kriterien an. Das 2021 gegründete ISSB arbeitet an der Entwicklung von Nachhaltigkeitsstandards für die Berichterstattung von Unternehmen, die zukünftig ein ähnlicher Goldstandard für das Reporting von Nachhaltigkeitskennzahlen werden sollen wie die weit verbreiteten IFRS Accounting Standards für Finanzkennzahlen.
Die Timeline ist ambitioniert: bereits 2022 sollen erste allgemeingültige IFRS-Nachhaltigkeitsstandards stehen. Und wenn diese anschließend ähnliche Verbreitung erfahren sollten wie die IFRS-Finanzstandards, ist zu erwarten, dass auch ESG-Ratingagenturen ihre Bewertungskriterien mehr standardisieren werden.
Daneben arbeitet die europäische Wertpapieraufsichtsbehörde ESMA an Maßnahmen, um die Zuverlässigkeit und Vergleichbarkeit von ESG-Ratingagenturen zu verbessern und Greenwashing einzudämmen. Als erster Schritt erfolgte Anfang 2022 ein „Call for Evidence“. In diesem bat die ESMA alle in der EU aktiven ESG-Ratinganbieter, ihre Nutzer (wie z.B. institutionelle Investoren) und die bewerteten Unternehmen und Staaten, Details zu ihrem Umgang mit ESG-Ratings darzulegen.
Doch solange die Standardisierungs-Mühlen von ISSB und ESMA noch mahlen, müssen Unternehmen weiterhin mit dem chaotischen Status Quo bei den ESG-Ratingagenturen zurechtkommen. Denn ESG-Ratings mögen noch nicht ideal funktionieren – doch ihre Bedeutung für Investorenentscheidungen ist weiterhin nicht zu unterschätzen.
Via Tomorrow ist eine Beratung, die das Ziel verfolgt, ESG-Märkte effizienter zu machen. Wenn es um ESG-Ratings geht, sind wir deshalb Ihr richtiger Ansprechpartner – und unterstützen Sie dabei, ein ESG-Rating zu erzielen, das Ihren Nachhaltigkeitsbemühungen tatsächlich entspricht. Kontaktieren Sie uns und erfahren Sie mehr!