Kann man den eigenen ESG-Impact auf Umwelt und Gesellschaft quantifizieren? Zwei Großkonzerne aus der Pharma-Branche sagen: ja – und könnten damit den Weg in eine noch komplexere ESG-Accounting-Zukunft weisen.
Man kann ja schnell den Überblick verlieren vor lauter Einheiten: t CO2e / k €. MWh / t. h/MA. kt NMVOC. ISO 50001:2018 (in %). LTIFR. OIFR. STI in %.
Wenn Sie diese Einheiten alle korrekt einem ESG-Indikator zuordnen können: Glückwunsch. Doch freuen Sie sich nicht zu früh, denn ein Ende der Kennzahlen ist noch lange nicht in Sicht. Vor allem deshalb, weil mehrere große Akteure sich anschicken, ihr ESG-Reporting um eine ganz neue Dimension zu erweitern: das sogenannte „Sustainability Accounting“. Ihre Vertreter verbergen sich zum Beispiel hinter hochtrabenden Vereinigungen wie dem „Impact-Weighted-Accounts Project“ oder der „Value Balancing Alliance“ – und die Pharma-Unternehmen Novartis und Merck sind ganz vorne mit dabei.
Was kostet die (Rettung der) Welt?
Was ist das Prinzip des „Sustainability Accounting“? In aller Kürze: die Bemühung, den gesamten Impact eines Unternehmens auf Umwelt und die Gesellschaft auf leicht verdauliche Geldsummen herunterzubrechen.
Unternehmen aus dem deutschsprachigen Raum sind an der Speerspitze dieser Bewegung. Aktuell berechnen bereits sechs DAX-Unternehmen ihren ökologischen und sozialen Impact auf die Welt mithilfe der Methodik der Value Balancing Alliance.
Aus der Schweiz mit dabei: der Pharma-Riese Novartis. Und die „bottom line“, die das Unternehmen für sich berechnet, liest sich durchaus beachtlich: zwar attestiert sich Novartis selbst für 2020 einen insgesamt negativen Umwelt-Impact in Höhe von 7,7 Mrd. USD – allerdings stellt Novartis dem einen positiven sozialen Impact von stolzen 242 Mrd. USD gegenüber.
ESG-Innovationen der Pharma-Industrie
Wie belastbar solche Berechnungen sind, ist unklar – die Berechnungsmethoden sind komplex und bei so wenigen Anwendern noch kaum seriös vergleichbar. Und für die allermeisten Investoren oder ESG-Ratingagenturen spielt das Sustainability Accounting in ihrer ESG-Bewertung von Unternehmen noch keine signifikante Rolle.
Hinter der Value Balancing Alliance stehen aber zumindest die großen Wirtschaftsprüfer der „Big Four“. Es ist also nicht völlig unvorstellbar, dass in Zukunft das „Sustainability Accounting“ auch regulatorisch noch eine größere Rolle spielen kann.
Der deutsche Pharmakonzern Merck KGaA ist sogar noch einen Schritt weiter gegangen und hat gleich eine eigene ESG-Impact-Berechnungseinheit entwickelt: den „sustainable business value“ (SBV), mit dem das Unternehmen zum Beispiel interne Berechnungen anstellt, welchen positiven (oder negativen) Einfluss ein neues Produkt auf Umwelt und/oder Gesellschaft hätte. So hat Merck z.B. ein Flüssigkristallglas für Fenster entwickelt, durch dessen Fähigkeiten sich – nach Angaben des Unternehmens – das Raumklima so weit verbessert, dass Mitarbeiter pro Jahr vier Tage „schneller“ arbeiten sollen als mit Fenstern mit Jalousien und einen Tag weniger krank sein.
Die grundlegenden ESG-Themenfelder für Pharmaunternehmen
Doch auch abseits solcher ESG-Experimente wie von Novartis oder Merck sind die Herausforderungen für Pharmaunternehmen nicht zu unterschätzen; die Ansprüche sind schon für die „üblichen“ ESG-Indikatoren hoch.
Dabei steht der soziale Bereich der drei ESG-Dimensionen im Fokus, während Umweltthemen bei Pharmaunternehmen nur eine vergleichsweise geringe Rolle spielen. Die SASB-Standards beispielsweise, an denen sich die meisten ESG-Ratingagenturen orientieren, definieren keinen einzigen Umweltbereich als spezifisch besonders wichtig für Pharma-Unternehmen, und auch nur einen Governance-Themenkomplex: „Geschäftsethik.“
Dagegen benennt SASB gleich 7 relevante Themenbereiche aus dem sozialen Bereich:
- Menschenrechte und Community-Beziehungen
- Zugang und Bezahlbarkeit
- Produktqualität und -sicherheit
- Patientenwohlergehen
- Verkaufspraktiken und Produktkennzeichnung
- Mitarbeiterengagement, -diversität und -inklusion
- Lieferkettenmanagement
Bei dieser Spannbreite sozialer Themen ist die Passgenauigkeit für Pharmaunternehmen allerdings nicht immer ohne Weiteres gegeben …
Vor welchen Schwierigkeiten stehen Pharma-Unternehmen?
Die Schwierigkeit für Investoren und Ratinganalysen, ein akkurates Bild der ESG-Performance eines Pharma-Unternehmens zu bekommen, liegt nämlich unter anderem darin, dass die Geschäftsmodelle häufig verschieden sind. Unternehmen A ein großer, selbst intensiv forschender und weltweit aktiver Pharmakonzern sein – und Unternehmen B vorrangig nur Vermarktungsrechte an Medikamenten halten, dadurch keine eigene Forschung betreiben, während Produktion und Vertrieb größtenteils ausgelagert sind.
Beide Unternehmen stehen vor unterschiedlichen Herausforderungen – werden aber von ESG-Ratingagenturen nach dem gleichen Schema bewertet. Dadurch passiert es häufig, dass die Bewertung von Ratingagenturen häufig an den wirklich relevanten ESG-Themen eines Unternehmens vorbeizielt. Das Ergebnis: unnötig schlechte ESG-Ratings.
Den betroffenen Unternehmen bleibt nur, ihre zum Geschäftsmodell passenden ESG-Schwerpunkte nachvollziehbar darzulegen. Hierzu bietet sich zum einen die Durchführung einer ESG-Wesentlichkeitsanalyse an, um die eigene Argumentation und Strategie zu stärken. Und zum anderen der direkte Austausch mit Ratingagenturen und Investoren, damit die ESG-Kriterien für das Unternehmen besser kalibriert werden können.
Ein Blick in die Zukunft: die Social Taxonomy der EU
In puncto zukünftiger Anforderungen steht für viele Unternehmen aktuell die EU-Taxonomie im Mittelpunkt. In ihrer derzeitigen Form hat sie auf die Pharmabranche aktuell jedoch nur einen begrenzten Impact. Und zwar aus dem einfachen Grund, dass für die Geschäftsaktivitäten von Pharma-Unternehmen darin (noch) keine zutreffenden Nachhaltigkeitsbestimmungen getroffen worden sind. Deswegen sind Pharma-Unternehmen zunächst „nur“ dazu verpflichtet, OpEx und CapEx nach Kriterien der EU-Taxonomie aufzuschlüsseln: also z.B., wenn sie in die Erzeugung eigener erneuerbarer Energien investieren.
Etwas mehr „Musik“ steckt in einem anderen EU-Zukunftsprojekt: der sogenannten „Social Taxonomy“. Auch wenn bis zur Verabschiedung noch einige Jahre vergehen dürften: die Vorgaben darin dürften ganz besonders für die Pharma-Branche interessant werden, da der Bereich „Access to Healthcare“ darin explizit erfasst wird. Das zeigt sich bereits im Entwurf der EU-Kommission, der Anfang 2022 veröffentlicht wurde: auf S. 58 finden Early Adopter schon heute erste grobe geplante Kriterien für die Pharma-Branche festlegt.
Sie hätten gerne Unterstützung dabei, mit Investoren oder Ratingagenturen in den Nahkampf zu ihren ESG-Kriterien zu gehen? Oder wollen nur ein bisschen mehr zu den Themen Sustainability Accounting oder Social Taxonomy erfahren? Dann melden Sie sich gerne!